Als Geschäftsführer einer Software-Agentur mit Fokus auf Entwicklung von Webanwendungen habe ich wohl einen, für diese Plattform zumindest, eher unüblichen Blick auf das Thema Marketing. In den letzten 4 Jahren, die ich diese Rolle innehabe, konnte ich jedoch zwei markante Unterschiede bei den Produkten beobachten, die wir entwickeln durften. Zum einen gab es jene Produkte, die strikt den Ideen und Vorstellungen des Auftraggebers und dessen Team folgten und zum anderen jene Produkte, die einen hohen Wert auf das Verhalten der Endnutzer legten. Wenn ich diese Produkte nun im Nachgang betrachte, zeigt sich, dass gerade die Produkte erfolgreich waren und sind, die einen hohen Wert auf den Nutzer und dessen Meinung gelegt haben.
Für mich ergibt sich beim Thema Marketing daher automatisch ein Verständnis von Markt- und Kundenorientierter Produktentwicklung. Ich verstehe unter Marketing weniger das Positionieren und Anpreisen von Angeboten, die nicht im Einklang mit dem Nutzer entwickelt wurden. Selbstverständlich spielen Social-Media-Marketing, Adwords und Branding eine bedeutende Rolle im modernen Marketing-Mix, doch darf aus meiner Erfahrung nicht die nötige Sorgfalt bei der nutzerorientierten Produktentwicklung darunter leiden.
Als kleine Randbemerkung gilt es hier zu erwähnen, dass der Kunde nicht gleich dem Nutzer ist. Bei uns ist es zumeist so, dass ein Auftraggeber uns als Kunde beauftragt und das Produkt am Ende von Menschen genutzt wird, die eben nicht Bestandteil des Unternehmens sind. Die Endnutzer sind zudem nicht unbedingt Menschen, die für das Produkt und dessen Nutzung Geld bezahlen.
Wie ich schon angerissen habe, wird leider zu häufig eine Produktentwicklung auf Basis von subjektiven Gefühlen und Einschätzungen vorgenommen. Diese Gefühle und Einschätzungen kommen häufig von der Geschäftsführung oder den mit der Produktentwicklung beauftragten Mitarbeitern und Teams. Zu selten werden im Vorfeld und im laufenden Betrieb die wirklichen Wünsche der Kunden erforscht und in die fortlaufende Entwicklung einbezogen. So geschieht es, dass den Nutzern immer neue Features geboten werden, die sie gar nicht brauchen und auf der anderen Seite werden Features nicht entwickelt, die sich die Nutzer dringend wünschen.
Werden die Wünsche und Bedürfnisse der Nutzer langfristig ignoriert, entsteht eine latente Unzufriedenheit und die Nutzer wechseln erfahrungsgemäß schnell den Anbieter, sobald sich eine für sie besser passende Lösung anbietet. Somit verliert der Anbieter einen wertvollen und teuer gewonnenen Nutzer, da er fahrlässig mit dessen Bedürfnissen umgeht.
Die Erforschung der Nutzerwünsche
Bei der Entwicklung von nutzerorientierten Produkten geht es somit insbesondere darum, die Wünsche und Bedürfnisse der Endnutzer zu erforschen. Im Zuge dieses Artikels werde ich nur auf Software-basierte Produkte eingehen können, da ich nur aus diesem Bereich über valide Erfahrung verfüge. Die zugrundeliegende Haltung, den Nutzer und Kunden durch das Sammeln von Feedback in die Produktentwicklung mit einzubeziehen, bleibt jedoch dieselbe.
Für das Erheben von Nutzerfeedback gibt es bei digitalen Produkten eine Vielzahl von Möglichkeiten. Diese reichen vom Sammeln qualitativen Nutzerfeedbacks durch aktive Befragungen, bis hin zum Tracken des Nutzerverhaltens und der darauf basierenden Conversion-Optimierung. Doch möchte ich im Folgenden auf ein paar Methoden etwas genauer eingehen.
Analoge Methoden
Qualitatives Nutzerfeedback zu bestehenden Anwendungen
Beim Sammeln von qualitativem Feedback wird mit einer gewissen Anzahl von Nutzern Interviews nach einem vorgegebenen Leitfaden geführt. Die Anzahl der befragten Personen kann sich je nach Größe der Nutzerbasis unterscheiden. Dabei spielt die Anzahl der geführten Interviews jedoch eher eine untergeordnete Rolle und es sollte mehr Wert auf die genutzte Methode und die Auswahl der befragten Nutzer gelegt werden.
Bei der Befragung von Nutzern gilt es jedoch zu beachten, dass verbale Aussagen zu Wünschen oder Nutzungsverhalten nicht unbedingt dem wahren Verhalten entsprechen. Rational formulierte Empfindungen unterscheiden sich zum Teil massiv von dem endgültigen Verhalten der Menschen.
Klassisches Interview für die Ideenfindung
Befindet man sich noch ziemlich am Anfang des Entwicklungsprozesses, können Nutzer-Interviews hervorragend für die Ideenfindung genutzt werden. Hierbei wird die avisierte Zielgruppe durch einen vorher entwickelten Gesprächsleitfaden geführt und das Feedback systematisch festgehalten.
Genau wie beim qualitativen Nutzerfeedback ist auch hier zu beachten, dass verbalisierte Wünsche nicht zwingend dem realen Nutzerverhalten entsprechen. Gleichzeitig gilt zu beachten, dass die Auswahl der Interviewpartner eine starke Auswirkung auf die finale Ideenfindung haben wird. Es gilt sich somit im Vorfeld sehr gründlich Gedanken um die echte Zielgruppe zu machen.
Beobachter Blindtests
Bei einem Blindtest werden Nutzer unter Beobachtung mit der zu nutzenden Software konfrontiert. Die Beobachtungen werden dokumentiert und im späteren Verlauf ausgewertet.
Bei einem Blindtest gibt es zwei Formen zu unterscheiden. Bei der einen Form, werden Nutzer ohne direkte Handlungsanweisungen oder Aufgaben beim Nutzen des Produktes beobachtet. Hierbei gilt es allgemeine Informationen zum Nutzerverhalten zu sammeln. Beispielsweise bevorzugte Features oder Schwächen im UX/UI.
Bei der zweiten Form des Blindtests wird den Nutzern eine Aufgabe erteilt, die sie zu lösen haben. So zum Beispiel einen Bestellprozess, gewisse Interaktionen mit anderen Nutzern oder eben entsprechende Aufgaben, die der Anwendung entsprechen.
Im Nachgang an beide Tests sollte eine zusätzliche Befragung der Nutzer durchgeführt werden, um zu erfahren, welche Erfahrungen und Empfindungen die Nutzer gemacht haben.
Digitale Methoden
Neben den eher analogen Methoden wie Interviews und Blindtest gibt es noch zahlreiche Software-gestützte Methoden zum Sammeln von Nutzerfeedback. Hierbei wird das primär Nutzerverhalten direkt in der jeweiligen Anwendung beobachtet und später interpretiert. Die daraus entstehenden Ergebnisse können insbesondere für die Optimierung vorhandener Anwendungen genutzt werden.
Click-Events mit Analytics
Bei der Nutzung verschiedener Analytics-Tools, wie beispielsweise von Google, gibt es die Möglichkeit des Trackens von festgelegten Click-Events. Beim Tracking mit Click-Events wird nicht nur das übliche Verhalten der Nutzer auf der Website und deren Springen von Unterseite zu Unterseite beobachtet. Zusätzlich wird getrackt, welche Interaktionen auf der jeweiligen Unterseite stattfinden. So zum Beispiel, welche Buttons geklickt werden oder wie lange die Nutzer mit den einzelnen Abschnitten der Unterseite interagieren.
Somit für es ermöglicht, die scheinbar relevanten Bereiche einer Seite zu validieren und möglicherweise prominenter zu platzieren.
Verhaltens-Tracking mit Heatmaps
Eine noch weitaus aufschlüssigere Methode, um das genaue Nutzerverhalten auf der Website zu tracken ist das Nutzen von Heatmaps. Hierbei wird durch eine zusätzliche Software die Bewegung der Maus oder je nach Methode sogar die Bewegungen der Augen erfasst und in eine Darstellung umgewandelt, die zeigt, auf welchen Bereich einer Seite die Nutzer ihr besonderes Augenmerk legen. So kann z.B. gemessen werden, ob gewisse Bilder oder Grafiken auf der Website die Aufmerksamkeit anziehen oder möglicherweise ablenken.
Diese Methode bildet eine mögliche Alternative oder Ergänzung zu dem herkömmlichen Blindtest wie er oben beschrieben wurde. Wichtig zu erwähnen ist jedoch, dass es für die Umsetzung dieser Methode einer zusätzlichen Software bedarf, die auf dem Computer der Nutzer installiert ist. Somit bedarf es nicht nur der Zustimmung in Form einer Akzeptanz eines Cookies, sondern sogar das aktive Installieren einer Software. Dies ist eine sehr große Hürde, weshalb diese Methode besonders in einem angeleiteten Test mit freiwilligen Nutzern geeignet ist.
Conversion-Optimierung
Besonders in transaktionsgetriebenen Branchen gilt die Conversion-Optimierung als gängige Methode. Hierbei werden gezielt kleinere Veränderungen an der Website oder dem Bestellprozess vorgenommen, um anschließend zu testen, wie sich die Conversionrate verändert hat. Ähnlich wie bei den anderen Tracking-Methoden dient eine Analytics-Lösung als technische Basis. Das allgemeine Nutzerverhalten verliert jedoch an Bedeutung und der reine Abschluss eines Geschäfts rückt in den Fokus.
Bei der Optimierung der Conversion ist besonders zu beachten, dass die Veränderungen am System isoliert vorgenommen werden. Es soll verhindert werden, dass andere Effekte die Messergebnisse und damit die Effekte, die durch die Veränderung des Systems herbeigeführt werden, verfälschen. Als Beispiel kann sowohl die veränderte Farbe eines Bestell-Buttons, als auch der gleichzeitig versendete Newsletter die Conversionrate beeinflussen. Welcher der Gründe nun zu dem Effekt geführt hat, kann dann nicht mehr bestimmt werden.
Bein A/B-Testing werden gleichzeitig mehrere Versionen einer einzelnen Veränderung im System getestet. Als Beispiel kann die veränderte Positionierung von Inhalten auf der Website genommen werden. Diese können z.B. in fünf oder mehr Varianten platziert werden und dann den Nutzern ausgespielt werden. Dabei wird getestet, welche der Versionen die besten Ergebnisse liefert. Hierbei handelt es sich nur um ein simples Beispiel aus dem Frontend-Bereich. Ähnliche Tests können jedoch auch mit verschiedenen Backend-Konfigurationen vorgenommen werden.
Analog zu der Conversion-Optimierung sollte auch beim A/B-Testing darauf geachtet werden, dass immer nur eine Maßnahme gleichzeitig umgesetzt wird und auch immer nur ein Feature gleichzeitig getestet wird. Sonst fällt es schwer im Nachgang konkrete Ergebnisse zu erhalten.
Neben der technischen Umsetzung eines A/B-Tests, bei dem jeweils Änderungen am System getestet werden, kann man auch Zielgruppen durch A/B-Tests genauer kennenlernen. So ist es möglich, unterschiedliche Zielgruppen, zeitlich separiert oder auf verschiedene Systeme zu lenken und somit die Zielgruppe zu identifizieren, für die ein System am besten geeignet ist. Im Nachgang kann diese Zielgruppe dann auch als Haupt-Zielgruppe ausgewählt werden.
Ergebnisse aus Nutzerfeedback nutzen
Nachdem die verschiedensten Methoden für die Generierung von Feedback genutzt wurden, gilt es die daraus erlangten Erkenntnisse zu nutzen. Aus meiner Erfahrung sollten für die daraus folgenden Entscheidungsfindungen nach Möglichkeit sowohl analoge, als auch digitale Methoden genutzt und ausgewertet werden.
Als übliche Ergebnisse, mit Blick auf die (Weiter)-Entwicklung von digitalen Produkten, ergeben sich für gewöhnlich zwei Erkenntnisse. Bei guter Qualität des Feedbacks ist relativ eindeutig, welche Features durch die Nutzer gewünscht werden und entsprechend als Nächstes entwickelt werden sollten. Dies bringt zudem den großen Vorteil mit sich, dass eine eindeutige Priorisierung des weiteren Entwicklungsprozesses möglich wird. Insbesondere bei einem agilen Entwicklungsprozess wird dabei der große Mehrwert für die Produktentwicklung deutlich.
Neben der Priorisierung der nächsten Features fällt es zudem einfacher, den konkreten Business-Value für die nächsten Maßnahmen zu evaluieren. Es kann besser abgeschätzt werden, welche geschäftlichen Auswirkungen auch die nächsten Schritte haben werden. Das vereinfacht mittelfristig die Planung des gesamten Geschäfts.
Der Entwicklungsprozess
Um einen Entwicklungsprozess durch solche Maßnahmen zu ergänzen, ist eine agile Grundhaltung unersetzlich. Die Prioritäten der laufenden Entwicklung können sich schnell ändern und entsprechend muss das Team mit den Veränderungen umgehen können.
In diesem Kontext ist das Konzept der Lean-Startup-Methode ebenfalls sehr zu empfehlen. Im Grunde basiert dies auf den gleichen Elementen: „Build, Measure, Learn“. Wie kann also mit möglichst geringem Aufwand etwas entwickelt werden, durch Test neue Kenntnisse gewonnen werden und diese als Leaning mit in die weitere Entwicklung einbezogen werden.
Auf Seiten des Teams ergeben sich außerdem einige weitere Rollen, die es je nach Projekt zu füllen gilt. Hierzu zählen insbesondere geeignete Product Owner sowie Entwickler für Frontend und Backend. Für die korrekte Konzipierung, Implementierung und Auswertung der Test empfiehlt sich die Zusammenarbeit mit einem Data-Scientist und UX Designer sehr. Zusätzlich kann Expertise aus dem Marketing sicherlich nicht schaden, um ausreichend Nutzer für Feedback zu generieren.
Bewährt hat sich in der Entwicklung ein zweistufiges, versetztes Sprint-System. Damit die Entwickler fertig konzeptionierte Features umsetzen können, gibt es einen parallelen Sprint für die Ausarbeitung im Bereich Konzept und Design. Hier wird auch das Feedback erhoben und ausgewertet und fließt in die Konzepte mit ein.
Die Struktur ist keine feste Vorgabe, hier sollte sich jedes Team im agilen Sinne seinen für das Team am Besten passende Workflow erarbeiten und immer wieder anpassen.
Den Kunden als Teil der Produktentwicklung verstehen
Die Endnutzer als aktiven Teil der Produktentwicklung zu betrachten bietet nicht nur auf Seiten des Marketings enorme Vorteile. Es reduziert die Gefahr falscher Priorisierung und verbessert maßgeblich das Produkt für die Nutzer. Gleichzeitig bietet eine offene Kommunikation zum Umgang mit Feedback und wie dieses in die Entwicklung einfließt ein großes Potenzial für die Wertschätzung der Endnutzer.
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