Warum man direct traffic nicht trauen kann
Um Erfolge im Online Marketing zu bewerten und zu bemessen braucht man Webanalyse. Dabei ist es nicht nur in Google Analytics ein ganz wesentlicher Baustein Zugriffe, Verhalten und Konversionen nach den Akquise-Kanälen zu differenzieren. Auf welchem Weg jemand auf die eigene Webseite kam, ist eine ganz grundlegende Unterscheidung.
Meistens visualisiert man sie als Tortendiagramm. Das sieht schön und aussagekräftig aus. Wie stehen Besuche über Links (referral), Besuche über die mit SEO optimierten Suchergebnisse (organic search), Besuche aus den sozialen Medien (organic social) und Besuche aus der bezahlten Online-Werbung (paid) zueinander? Welche dieser Kanäle bringt am meisten Umsatz, welcher lohnt sich momentan nicht?
Aber dann ist da immer noch das Tortenstück namens “direct”. Oft ist es groß und meist macht es zu einem gewissen Grad ratlos.
Was sind diese “direkten Besucher”? Die schnelle, weder ganz richtige, noch ganz falsche Antwort ist:
“Es sind Aufrufe der jeweiligen Seite, die direkt über die URL-Eingabe im Browser erfolgen. Solche Nutzer kennen die Seite bereits und steuern sie direkt an. Bei einem solchen Aufruf kann keine andere Plattform vorher ein Signal mitschicken, von dem das Analyse-Tool den Herkunftskanal des Besuchs ableiten kann.”
Sachlich richtig, aber nicht die ganze Wahrheit. Denn es gibt noch einige andere Situationen, in denen keine Signale beim Seitenaufruf mitgesendet werden. Und die deshalb im Default-Kanal “direct” erfasst werden. Aufrufe durch Bookmarks beispielsweise oder per Messenger versendete Links. Oder der für viele Digital Natives kaum vorstellbare Fall, dass URLs als analoge Notizen weitergereicht werden.
Das bedeutet, dass einige der als direct traffic undeklariert eingehenden Aufrufe eigentlich social shares über nicht öffentliche oder nicht trackbare Kanäle stattfinden. Diese Aufrufe wurden schon 2012 als “dark social traffic” bezeichnet. Alexis C. Madrigal prägte die Bezeichnung in einem Artikel im Atlantic (www.theatlantic.com/technology/archive/2012/10/dark-social-we-have-the-who le-history-of-the-web-wrong/263523/).
Und ja, es bedeutet genau das, was jeder Social Media Manager schon immer wusste: Aktivitäten in den sozialen Medien sind wahrscheinlich viel erfolgreicher, als die Webanalyse zeigt. Aber: Auch andere Kanäle können über Dark Social geteilt werden.
Bis 2019 wurde das Thema nicht etwa obsolet: Von einem Webanalyse-Nerd-Thema ist es zu einem wichtigen Faktor im Online Marketing geworden, den man unbedingt im Auge behalten sollte. Heute ist Dark Social ein relevanter Faktor, der – Achtung! – bereits Wahlen beeinflusst hat.
Was ist Dark Social?
Dark Social ist der Anteil der direkten Webseite-Aufrufe, die durch das ungetrackte Weitergeben von URLs zwischen Endnutzern zustande kommen. Mögliche Wege sind beispielsweise:
- mündlich
- per E-Mail
- per Messenger
- durch Eintippen und Speichern auf einem fremden Endgerät (“Gib mir mal dein Handy. Also, der Shop ist …”)
- vereinzelt noch per SMS
- ganz old-school als analoge Notiz
Gerade die letzten zwei hören sich so an, als ob sie bald aussterben werden. Aber die letzten Jahre haben vor allem eines gezeigt: Es entstehen immer neue Wege, auf denen Menschen ohne Tracking kommunizieren. Das ist die vielleicht wichtigste Erkenntnis in der Beschäftigung mit Dark Social:
Die direkte Weitergabe von Informationen an persönlich bekannte Personen ist die natürlichste Form der menschlichen Kommunikation. Und die wird nicht aussterben.
Gerade im sozialen Internet gibt es eine Tendenz: Geschlossene und private Kommunikationszirkel werden mit der Zeit immer größer. Sie verwandeln sich in halb-öffentliche und manchmal sogar ganz öffentliche Räume, sodass sich viele ihre Nutzer Stück für Stück neue geschlossene und private Kreise suchen.
Das findet sowohl innerhalb sozialer Netzwerke statt, als auch auf der größeren Ebene zwischen Plattformen. Und immer laufen Tracking, Marketing und Werbung diesen Verschiebungen hinterher. Natürlich wollen wir möglichst schon im privaten Raum ansetzen. Aber mit schlecht gemachten Maßnahmen beschleunigen wir eher noch das Weiterziehen. Vom Datenschutz ganz zu schweigen.
Dark Social ist also nicht nur ein Tracking-Problem, sondern eine der grundsätzlichen Herausforderungen im Online Marketing. Es ist ein griffiger – manche sagen überstrapazierter – Begriff für Rolle von Kommunikation
Wie kann ich mit Dark Social umgehen?
Dark Social ist eigentlich nichts Neues. Es die Fortführung bestehender Kommunikationsmuster mit wechselnden technischen Mitteln, die inzwischen eben auch Webseiten als Gesprächsthemen mit einschließt. Und als Markteter will man eigentlich genau in diese Kommunikationskanäle kommen. Man möchte “viral gehen”.
Aber als Webanalyst möchte man klare Zuordnungen von Aufrufen und als Controller möchte man die Aufwände in ein Verhältnis zum Erfolg setzen.
Für die letzteren Ziele gibt es bereits ein paar Lösungsansätze:
- Link-Shortener mit so versteckten UTM-Parametern können die Zuordnung von selbst in die sozialen Medien eingebrachten Links erleichtern
- Sharing-Buttons erleichtern den Nutzern das Teilen vor allem auf mobilen Geräten und können kanal-spezifische Signale und Parameter in den Link bringen
- Die direkten Zugriffe nach Landingpage auswerten, um übliche “echte” Direkteinstiege von Dark Social zu trennen. Das ist leider schon wegen der Nutzung der Startseite als Landingpage sowohl für direct, als auch dark social nur bedingt sinnvoll
- Die bestehenden Tools konnten mich bisher nicht überzeugen
Keiner dieser Ansätze macht alle Anteile und Wege im Dark Social sichtbar. Sie geben einen Einblick, erlauben vielleicht eine Hochrechnung. Der Webanalyst knirscht mit den Zähnen und denkt sich “Besser als nichts.”
Der Social Media Manager freut sich, weil der Impact (und die generierten Konversionen) etwas besser nachweisbar ist.
Der Online Marketer fragt sich: “Wie kann ich dieses Phänomen aktiv nutzen?”
Was ich viel wichtiger finde, ist das richtige Mindset zu finden, um das hinter diesem Phänomen liegende Verhalten nicht nur zu verstehen, sondern auch im Marketing nutzbar zu machen.
Selbst wenn man den genauen Anteil von Dark Social am eigenen direct Traffic nicht genau erfassen kann und noch schwerer konkreten Marketingmaßnahmen zuordnen kann: Er ist trotzdem wertvoll.
- Dark Social Shares sind praktisch immer persönliche Empfehlungen mit großer Kraft
- Sie werden in vielen Fällen nicht ungefragt gegeben, sondern im Wissen um ein konkretes Bedürfnis des Empfängers
- Die älteren Generationen von Internetnutzern nutzen diesen Kanal schon immer und werden das auch weiter tun
- Gerade Themen wie Gesundheit, Jobs, Reisen, Ernährung und Finanzen werden im Dark Social immer freier diskutiert werden, als in den öffentlichen Räumen sozialen Netzwerke
Wenn die Pinnwände und öffentliche Gruppen der sozialen Medien die Marktplätze sind, auf denen jeder reden, diskutieren und werben kann, dann sind die privaten Dark-Social-Gruppen die Wohnzimmer und Gärten des Internets.
Warum sich tiefer mit Dark Social beschäftigen?
Momentan findet Dark Social vor allem Privaten und semi-privaten Messenger-Gruppen statt. Die Technik wird sich in Zukunft sicher weiter wandeln und das Rad von Öffentlichkeit und Privatheit weiter drehen. Aber ein Vorgehen, dass heute bei Messengern funktioniert, um die eigenen Informationen in die privaten Nutzersphären zu bringen, kann auch in anderen technischen Inkarnationen funktionieren.
Und deshalb nochmal zurück zur Einleitung: “Heute ist Dark Social ein relevanter Faktor, der – Achtung! – bereits Wahlen beeinflusst hat.”
Denn der erfolgreichste bislang bekannte Einsatz von Dark-Social-Marketing über Messenger ist momentan die Präsidentschaftswahl in Brasilien 2018, wie die Angaben von Luiz Rodrigues Junior zum Vorgehen beim Erstellen von WhatsApp-Gruppen durch Wahlkampfteams belegen (https://www.bbc.com/news/technology-45956557).
Dieses Vorgehen ist aus naheliegenden Gründen in Europa illegal, zeigt aber die Macht nicht-öffentlicher Austauschgruppen, aus denen heraus Meldungen und Links in andere nicht öffentliche und öffentliche Gruppen und Räume weiter geteilt wurden.
Dabei wurden zahlreiche Messenger-Gruppen erstellt und über spezielle Software und gekaufte Telefonnummern-Listen in großer Menge Leute in die Gruppen eingeladen. In diesen Gruppen starteten dann ein, zwei gesteuerte Accounts Diskussionen und brachten Themen ein, über die mit gezielten Aussagen Stimmung gemacht wurde.
Als Erkenntnisse konnten sie festmachen, dass die Gruppen allgemein genug benannt und beschrieben sein müssen, um glaubwürdig zu sein und Ablehnungen der automatisierten Einladungen von über 50 % zu verhindern. “Unterstützt XY” funktionierte nicht, “Beendet die Korruption in der Politik” dagegen schon. Lokale Gruppen, in die nur Personen aus einer Gegend eingeladen wurden, waren sehr erfolgreich.
Um die gewünschte Breite und relevante Zahlen “lebendiger” Gruppen zu erhalten, mussten sehr viele Gruppen generiert werden. Das brachte sie allerdings an die Grenzen der erlaubten Gruppen, die pro Person eröffnet werden können und bedeutet großen Arbeitsaufwand beim Monitoring und steuern der Gruppen. Dafür wurden Aussagen in den Gruppen stärker weiter in andere geschlossene Messenger-Gruppen geteilt, als von öffentlichen sozialen Plattformen.
Wie gesagt: Dieses Vorgehen ist aus mehreren Gründen illegal, zeigt aber die Rolle von nicht öffentlichen Gruppen als gefühlt sichere und familiäre Austausch-Orte. Solche Gruppen zu erschaffen und natürlich wachsen zu lassen ist keine einfache Aufgabe.
Marken genügen hier nicht. Es kommt auch auf Persönlichkeiten an. Im Idealfall werden solche Gruppen zu Engagement bindenden Diskussionsplattformen, die dabei nicht zu streitlastig werden, sondern das Stammes-Gefühl der Nutzer bedienen.
Hört sich nach viel Arbeit an? Definitiv. Und außer über die Möglichkeit selbst z. B. seine Links mit UTM-Parametern oder über Link-Shortener einzubringen, sind die Erfolge kaum zu tracken. Aber sich mit solchen Konzepten und ihrer Umsetzbarkeit zu beschäftigen ist eine wichtige Übung für erfolgreiches Online Marketing. Denn es gibt wie immer Zwischenschritte auf dem Weg zur vollkommenen Umsetzung.
Der erste Schritt ist Dark Social als Konzept zu kennen. Herzlichen Glückwunsch, den ersten Schritt hast Du schon gemacht.
Und für die nächsten Schritte habe ich zum Abschluss dieses Artikels noch fünf ganz konkrete Empfehlungen:
- Nutze UTM-Parameter und Link-Shortener, um das Tracking auch für Dark-Social-Shares zu verbessern.
- Erstelle für dein Unternehmen zumindest einen News- oder Broadcast-Kanal, über den die üblichen Social-Posts zusätzlich gesendet werden und bewerbe ihn auf deinen etablierten Social-Plattformen, solange Du Nutzer dort noch erreichst.
- Achte bei der Auswahl von Influencern und Mikro-Influencern darauf, ob sie auch in Messengern aktiv sind.
- Erkundige Dich in deinem Netzwerk nach relevanten Messenger-Gruppen und tritt ihnen bei, egal ob lokal, branchentypisch oderzielgruppentypisch.
- Es gibt keine? Gründe sie, definiere sie als semi-privaten Informationsort und lade dein Netzwerk ein.
Und zu guter Letzt:
Im Messenger gibt es keine Reichweitebegrenzung. Jedes Gruppenmitglied, das die Gruppe nicht auf stumm geschaltet hat, wird informiert. Poste genau deshalb mit Bedacht. WhatsApp schaltet Dich vielleicht nicht stumm, aber die Gruppenmitglieder tun es.
In diesem Sinn: Online-Profession wünscht Dir viel Erfolg.
Credits:
Eisberg: Darwin Laganzon auf Pixabay
Share: janjf93 auf Pixabay
Wohnzimmer: Petr Podlesak auf Pixabay
Haus und Garten: midascode auf Pixabay
Kneipe: Christian_Birkholz auf Pixabay
Marktplatz: Günther Schneider auf Pixabay
Stadtplan: City vector created by freepik
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